Hoffnungsbrief Nr. 45
Eingang: 04.02.2021, Veröffentlicht: 04.02.2021
Liebe Gemeinde!
Wenn mich jemand fragt, welche Jahreszeit ich am Liebsten mag, kann ich darauf keine Antwort geben. Für mich hat jede Jahreszeit schöne, einmalige Seiten-selbst der Winter. Ich friere zwar schnell und leide wie wohl viele Menschen darunter, dass es spät hell und schon früh wieder dunkel wird im Tageslauf. Aber ich liebe diese unglaublich klare Sicht, die man nur an sonnigen Wintertagen hat. Jedes kleinste Detail ist erkennbar an solchen Tagen, ob es nun das winzige Eiskristall ist, das sich an einer Grasspitze oder einer vertrockneten Blüte festgesetzt hat, oder die Häuser des Dorfes am weit entfernten Hang, die auf wundersame Weise zum Greifen nahe scheinen.
Dieses besondere Phänomen hat den christlichen Liedermacher Manfred Siebald wohl zu seinem Lied: “Wie ein klarer Wintermorgen” inspiriert. Darin singt er davon, dass es auch in unserem Leben manchmal so ist: dass wir Dinge plötzlich klar sehen-manchmal sogar klarer, als uns lieb ist. Dass wir auf unser Leben blicken und erkennen, was gut war, und was nur gut gemeint. Dass wir sehen und spüren, wo Leerstellen sind, wo uns etwas oder jemand fehlt - aber auch, wo wir gescheitert sind, wo wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden sind. Und dann, so singt er, steht man da, wie an einem Wintermorgen, und friert.
Solche Wintermorgenaugenblicke kommen meist ungeplant; oft dann, wenn wir aufgrund äußerer Umstände aus dem Trott geraten sind und unser Leben neu sortieren müssen. In dieser besonderen Zeit, in der wir uns befinden-seit einem Jahr nun schon-fällt vieles weg, was uns zu anderen Zeiten davon abhält, sich allzu intensiv mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen . Wir haben viel weniger Möglichkeiten uns abzulenken, weil Kneipen, Theater, Fitnessstudios etc. geschlossen haben, und durch die Kontaktbeschränkungen sind wir mehr auf uns selbst zurückgeworfen als zu jeder anderen Zeit bisher. Ich glaube, sehr viele Menschen haben da keine Übung drin, nur sich selbst als Gesellschaft zu haben, oder nur einen sehr beschränkten Personenkreis. Sie ist Neuland für unsere Seele, diese Zeit; ist wie ein klarer Wintermorgen, der manches ans Licht bringt, was bislang tief in uns vergraben war.
Wenn wir unser Leben anschauen; genau hinblicken auf das, was war, dann gibt es auf den meisten Lebenswegen etwas, das wir am Liebsten aus unseren Gedanken herausstreichen würden. Situationen, in denen wir uns -mit der Erfahrung von heute- anders entschieden hätten, oder Momente, die wir im Nachhinein gerne intensiver ausgekostet hätten, weil wir erst im Rückblick erkennen, wie wertvoll sie waren. Aber das, was wir sehen, wenn wir zurückschauen, ist vergangen. Es hat uns geprägt, uns zu dem Menschen gemacht, der wir sind. Aber es lässt sich weder zurückholen noch ändern. Wir können nicht nach vorne gehen, ohne loszulassen, was gewesen ist.
Im Wochenpsalm für den 7. Februar, den Sonntag Sexagesimae, heißt es: “Dein Wort sei meines Fußes leuchte und ein Licht auf meinem Weg.” (Psalm 119, 105). Ja, wir gehen unseren Weg mit unserer Vergangenheit im Gepäck, und manchmal steht uns das schmerzhaft klar vor Augen. Aber trotz allem, was war, hat der Weg, der noch vor uns liegt, das Potenzial, hell zu sein. Gottes Wort ist uns Licht und Leitstern, Ermutigung und Wegzehrung. Es gibt uns Orientierung in stürmischen Zeiten, und es hält am Ende eine große Zusage für uns bereit, denn es sagt mir und Ihnen: “So, wie du bist, bist du gewollt und geliebt. Mit deiner Vergangenheit, deiner Gegenwart und deiner Zukunft bist du Gottes Kind!” Mit dieser Gewissheit im Herzen brauchen wir einen klaren Blick auf unser Leben nicht zu fürchten-denn wenn es uns friert bei dem, was wir sehen, bringt Gottes Licht uns ganz sicher die Wärme zurück.
Herzlichst, ihre Zwischenzeitpastorin
Anne-Christin Ladwig
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