Hoffnungsbrief Nr. 15
Eingang: 01.07.2020, Veröffentlicht: 01.07.2020
Foto: Ann-Christin Ladwig
Liebe Gemeinde,
als Kind habe ich mal ein Buch gelesen, in dem ganz viele unterschiedlichen Geschichten standen - aber nicht wohlgeordnet nacheinander, sondern ineinander verwoben. Es ging um einen Jugendlichen, der auf einer einsamen Insel gestrandet war. Immer, wenn man ein Stück weit gelesen hatte, kam eine Seite, auf der alternative Handlungsmöglichkeiten aufgeführt waren:
Du bist vom Strand ein Stück in den Urwald hineingegangen. Nun hörst du in der Ferne Trommeln.
a) Schnell läufst du zum Wrack deines Bootes zurück. - Lese weiter auf Seite 23.
b) Du versuchst zu orten, woher die Geräusche kommen und läufst in die andere Richtung. Lese weiter auf Seite 50.
c) Du kletterst auf einen Baum und versteckst dich im dichten Blätterwerk. Lese weiter auf Seite 18.
Ausschlaggebend war für mich am Anfang: Wie komme ich möglichst zügig zum Ende des Buches? Allerdings habe ich schnell festgestellt, dass das nichts bringt - manche Wege entpuppten sich nämlich auch als Sackgasse und man landete an einem Punkt, wo es hieß: Blättere zurück zu Seite 5 und entscheide dich neu. Ich habe mich seitdem oft gefragt, ob das im Leben ähnlich ist: dass ich eine Entscheidung treffe - bewusst oder unbewusst - und dadurch gerät mein Leben auf eine Bahn, die mich am Ende nicht weiter bringt. Und manchmal, wenn etwas so richtig schief läuft, suche ich diesen Punkt, wo es begonnen hat; diesen Augenblick, vor dem noch alles hätte ganz anders kommen können. Aber im Leben ist es nie so, dass man die Möglichkeit hat, noch einmal umzukehren und zu Seite 5 zurückzugehen, um seine Entscheidung ein zweites Mal zu treffen, nur eben mit mehr Bewusstsein für die Konsequenzen.
Als ich in der Psychiatrie gearbeitet habe, bin ich auch Menschen begegnet, die in ihrem Leben zumindest an einer Stelle eine Entscheidung getroffen haben, die falsch war. Oft waren aber lange im Vorfeld schon die Weichen gestellt - auch an Punkten, wo sie keine Wahl hatten. Bei der Familie zum Bespiel, in die sie hineingeboren wurden. Gerade ist das Thema wieder aktuell: Kindesmisshandlung und Missbrauch in der Familie. Manche dieser Kinder sterben. Andere überleben. Und einige davon werden später selbst auffällig und schlagen einen Weg ein, der sie hinter Gitter bringt. Eine Patientin im LKH hat mir von so einer Kindheit erzählt und gefragt: Anne, wo war denn da dein Gott? Und ich hätte so gerne ihre Lebenszeit zurückgedreht, sie noch einmal auf Seite 5 anfangen lassen - und vorher die Seiten 1 - 4 umgeschrieben, um die Welt ein bisschen gerechter zu machen. Aber sowenig wie die Patientin zurückkehren kann zu Seite 5, sowenig kann ich ihr Leben für sie umkehren; kann ich es für keinen umkehren, auch nicht für mich.
Ist das Leben also eine Sackgasse? Ich glaube das nicht - und meine damit: glauben im tieferen Sinne des Wortes. Denn unser Glaube schließt Vertrauen, Hoffen, Wissen und manchmal auch Zweifeln mit ein. Bei Gott ist Umkehr denkbar - und mehr noch: von ihm gewollt und ermöglicht, weil Gott Vergebung verspricht. Diese Umkehr macht das Gestern nicht ungeschehen, aber sie hilft, ein Morgen überhaupt wieder in den Blick zu bekommen. Bei meiner Arbeit in der forensischen Psychiatrie habe ich eine Ahnung bekommen, was das heißt: aus der Vergebung zu leben. Und vergeben muss ich nicht nur anderen, sondern oft genug auch mir selbst. Wir können Entscheidungen nicht rückgängig machen, ein Lebensbuch nicht umschreiben, können nicht einfach zurückblättern zu Seite 5 - aber wir können ein neues Kapitel anfangen.
Herzlichst, Ihre Zwischenzeit-Pastorin
Anne-Christin Ladwig
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